10 - Großstadtentwicklung und Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts [ID:490]
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Meine Damen und Herren, in Deutschland, der nach Helmut-Plesmer verspäteten Nation,

verläuft der Prozess der Urbanisierung, der Verstädterung und der Ausbreitung eines

modernen urbanen Lebensstils in einer besonders gedrängten und stürmischen Weise. Die entscheidende

Phase dieser Entwicklung fällt in die Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs von der

Reichsgründung 1871 bis zum Beginn des ersten Weltkriegs 1914. Diese Zeit stellt nicht zufällig

auch eine wichtige Phase in der Geschichte der Jugend- und Jugendbewegung dar. Der Zusammenhang

zwischen Großstadtentwicklung und Jugendentwicklung, Jugend- und Jugendbewegung zu Beginn des 20.

Jahrhunderts bildet den Gegenstand meines heutigen Vortrags. Ich habe meine Ausführungen in drei

Hauptabschnitte untergliedert. Nach dieser Einleitung werde ich zunächst auf die

Großstadtentwicklung eingehen, da die wichtigsten Tendenzen nachzeichnen. Dann werde ich auf die

Großstadt als Lebensraum der Jugend eingehen und vor diesem Hintergrund werde ich dann wichtige

Erscheinungen des Jugendaufbruchs und der Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts

darstellen. Zum Abschluss werde ich eine kurze Zusammenfassung und einen kurzen Ausblick geben.

Zunächst also Großstadtentwicklung und Moderne. Das Deutsche Reich ist zum Zeitpunkt seiner

Gründung 1871 eine immer noch stark ländlich geprägte Gesellschaft. In dieser Zeit leben zwei

Drittel der Bevölkerung auf dem Lande und nur circa fünf Prozent der Bevölkerung lebt in einer

der acht damaligen Großstädte. Bis zum ersten Weltkrieg ergibt sich ein grundlegender Wandel.

Das Verhältnis zwischen Landbevölkerung und Stadtbevölkerung kehrt sich um, sodass nun zwei

Drittel der Bevölkerung zu Städtern geworden sind. Jeder fünfte Bewohner des Deutschen Reichs lebt

in einer Großstadt. Besonders rasant ist die Entwicklung in den Großstädten. Ihre Zahl erhöht

sich von den ursprünglich acht auf 48. Zugleich erfahren die Großstädte ein ungeheures Wachstum.

Die Großstadtentwicklung ist aufs engste verbunden mit der Entwicklung der Jugend und der

Jugendthematik der damaligen Zeit. Die deutsche Gesellschaft des Kaiserreichs ist im Unterschied

zu unserer Gegenwartgesellschaft eine ausgesprochen junge Gesellschaft. Über ein Drittel der

Bevölkerung ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter 16 Jahre alt. Das bewirkt Aufbruchs- und

Erneuerungsvorstellungen, führt aber auch zu einem Druck auf Ausbildungssystem und Arbeitsmarkt und

zu Spannungen im Generationenverhältnis. Die Jugendlichkeit der Gesellschaft zeigt sich vor

allem in den Großstädten. Dort leben besonders viele jüngere Menschen und dort kommen Jugendliche

in größerer Anzahl in den Schulen, in den Betrieben und auf den Städten, auf den Straßen zusammen.

Mit der fortschreitenden Urbanisierung und Großstadtentwicklung geht die Umwandlung der

ständischen Agrargesellschaft in die moderne Industriegesellschaft einher. Dieser grundlegende

gesellschaftliche Wandel ist mit einer weitreichenden Veränderung für die

Heranwachsenden verbunden. Er bedeutet die Auflösung der vielfältigen, traditionalen

Formen des Jugendalters, die in der ständischen Gesellschaft im ländlichen Gesindedienst,

im Handwerk, im Bürgertum und im Adel für den Übergang aus der Kindheit in das erwachsenen

Alter fest institutionalisiert waren. Nach der Vorbereitung im 18. Jahrhundert und in der ersten

Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt sich nun eine moderne Jugendphase auf breiter Front durch und

dies vollzieht sich in einer besonders schnellen und auffälligen Weise in den sich ausbreitenden

Großstädten. Dabei bilden sich im Wesentlichen zwei moderne Formen des Jugendalters mit

entsprechenden Zwischenformen heraus. Die kurze Arbeits- oder Arbeiterjugend und die lange Bildungs-

oder bürgerliche Jugend. Zwei Formen des Jugendalters mit jeweils einer männlichen und weiblichen

Variante. Die Großstadt schafft für die Jugend veränderte Bedingungen des Heranwachsens, die von

ihr auf unterschiedliche Weise angeeignet und genutzt wird. Die Arbeiterjugend, die mit dem

verstärkten Industrialisierungsschub seit der Reichsgründung deutlich anwächst, eignet sich die

gesellschaftliche Umwelt, das Quartier, die Straßen und Plätze als ihren Lebensraum an. Das wird

vorbereitet in der Kindheit, in der die Hinterhöfe und Straßen einen wichtigen Erfahrungs- und

Lernort des Aufwachsens bilden, von dem aus man sich im Quartier, in der Stadt und in der Welt

orientiert. Das Ende der Kindheit und der Beginn des Jugendalters deutlich markiert durch die

Schulentlassung und den Eintritt in ein Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis, sind im Unterschied zur

Bildungsjugend nicht mit dem Rückzug von den Straßen verbunden. Die Arbeiterjugend der Großstadt

Teil einer Videoserie :

Presenters

Prof. Dr. Michael v. Engelhardt Prof. Dr. Michael v. Engelhardt

Zugänglich über

Offener Zugang

Dauer

00:30:36 Min

Aufnahmedatum

2006-02-02

Hochgeladen am

2017-07-06 14:33:15

Sprache

de-DE

Tags

Jugend Großstadt Großstadtentwicklung Jugendbewegung Entwicklung
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