In dem Vortrag wird ein Zugang zur Ästhetik Europas dadurch gesucht, dass man an Bilder und Geschichten erinnert, in denen Europa einen, man könnte sagen, signifikanten Ausdruck erfahren hat. Insofern wird Ästhetik nicht im Sinne des ursprünglichen gr. Begriffs der aisthesis, der sinnlichen Wahrnehmung von Europa verstanden. Und auch nicht über die Ästhetik als Theorie des Schönen oder der Künste. Es geht um eine Ästhetik als metaphorischen Zugang zu Europa, um Sinnbilder und Sinngeschichten, in denen sich Europa quasi verkörpert hat. Die leitende Frage ist sehr einfach: Was „sehen“ wir oder was stellen wir uns vor, wenn „wir“ über Europa nachdenken? Welche Bilder und Geschichten gehen uns dabei durch den Kopf?
Sechs Zugänge werden zunächst vorgestellt: 1. Die griechische Mythologie, in der Europa der Name einer phönizischen Königstochter war; 2. Platon und sein „Höhlengleichnis“ , in der um das Sehen, die Sonne, das Licht, den Weg nach oben – und um die Bildung, die Wahrheit, die Vernunft und die Philosophie geht; 3. das Bild von Europa als Haus oder als Festung geht mit einer restriktiven Einwanderungs- und Migrationspolitik, aber auch mit Fragen der Gastlichkeit und Gastfreundschaft einher. 4. Eine weitere wichtige und bis heute bedeutsame Dimension Europas ist die christliche Religion und die mit ihr verbundenen Aspekte des Todes und des Lebens. 5. Auch die europäischen Menschenbilder der homo tranquillus und der homo faber bzw. die vita contemplativa und die vita activa sind enorm bedeutsam. 6. Europa, das war und ist, spätestens seit 1492, der Entdeckung Amerikas, ein ästhetisches Projekt der Zivilisierung und Kultivierung der Welt. 7. Und auch die Idee der Einheit Europas bildet mit der Europaflagge eine eigene Ästhetik aus, die den vollständigen und vollkommenen Zustand Europas schon visionär vorwegnimmt.
Der Vortrag erinnert noch an eine andere Tradition, die man eine europäische Ästhetik des Grauens nennen könnte. Vorgestellt wird ein Beispiel aus Primo Levis Buch „Ist das ein Mensch?“, ein Buch, das seinen Erlebnissen vom Februar 1944 bis zu Befreiung des Vernichtungslagers im Januar 1945 gewidmet ist.
Schließlich wird versucht, die These plausibel zu machen, dass wir den Orient nicht vergessen dürfen, wenn wir über die Ästhetik Europas reden.