Prophetie wurde im mittelalterlichen lateinischen Westen als göttliche Eingebung verstanden, die auf eintretende Geschehnisse verweist und nicht nur das Künftige anzeigt, sondern auch einen verborgenen Sinn der Dinge erhellt. Diese weite Definition hat die Tradition im lateinischen Westen bestimmt. Viele prophetische Texte kündigen politische und kirchliche Ereignisse an und haben dabei eine Zukunfts- und Tiefendimension im Blick. Die zahlreichen Deutungen zur Geheimen Offenbarung, der Apokalypse, zeigen eine Verknüpfung von Endzeit und Geschichte. Im hohen Mittelalter besaßen viele Prophetien politische Aktualität, es verbreiteten sich Werke namentlich bekannter Autoren und Autorinnen wie Hildegard von Bingen oder Joachim von Fiore, die eine große Wirkmächtigkeit erlangten. Falsche Propheten lassen sich eher versteckt in der historiografischen Überlieferung oder in Prozessakten finden; als beispielhaft kann hier Johanna von Orléans gelten. Falsche - oder gefälschte - Prophetien konnten aber auch andere Funktionen übernehmen: Gute Prognosen zu produzieren "hebt die Stimmung" und schafft Unterstützung, zum Beispiel für einen Kreuzzug. Vor diesem Hintergrund konnten Prophetien des mittelalterlichen lateinischen Westens mitunter eine ähnliche Rolle spielen wie heute, wenn wir uns nur die zahlreichen Propheten anschauen, die in den Medien immer wieder nach ihren Blicken in die Zukunft gefragt werden. Dabei scheint heute noch unwichtiger, ob die Prophetie eintrifft - aber die politischen Aspekte sind dennoch bei genauerem Hinsehen erkennbar.