Worum geht es in dieser Folge?
In unserer Folge geht es um das Thema Performativität, genauer: um das Darstellen von Emotionen im Alsfelder Passionsspiel!
Weiterführende Informationen
Quelle: Das Alsfelder Passionsspiel, hier V. 5264–5495.
Zum Weiterlesen:
Barton, Ulrich u. Rebekka Nöcker: Performativität. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hrsg. v. Christiane Ackermann u. Michael Egerding. Berlin 2015, S. 407–452.
Däumer, Matthias: Stimmen im Raum und Bühne im Kopf. Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane. Bielefeld 2014 (Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 2014), hier S. 112–122.
Schulze (2012), hier S. 35–44, S. 218–226.
Vera Ahlers, Felizitas Hopf u. Paula Zeiler
Bühne aufs Ohr. Eine Reise durch die geistlichen Spiele des Mittelalters
Hallo, wir begrüßen euch ganz herzlich zur heutigen Folge Performativität und Medialität: Schauspieler und Publikum. Schön, dass ihr alle eingeschaltet habt. Wir sind heute zu dritt hinter dem Mikro und zwar bin ich Paula. Gemeinsam mit mir sitzt hier Feli. Hallo. Und Vera ist auch mit dabei. Hallo. Wie auch in anderen Folgen der Podcastreihe steht bei uns heute ein geistliches Spiel im Mittelpunkt, das wir gemeinsam mit euch auf performative und mediale Inhalte besprechen und analysieren möchten. Bei dem Text handelt es sich um das Alsfelder Passionsspiel. Doch bevor wir uns genauer mit diesem Text beschäftigen, müssen wir erstmal einen Blick auf die Theorie werfen. Performativität, was ist das überhaupt? Der Begriff der Performativität bezeichnet generell den Vollzugscharakter kommunikativer Handlungen. Dabei geht es um die Durchführung eines Ereignisses und dessen Wahrnehmung. Was genau damit gemeint ist, möchte ich euch an einem Beispiel deutlich machen. Ein klassischer performativer Sprechakt ist so etwas wie: „Ich schwöre.“ Sobald man das gesagt hat, hat man die entsprechende Handlung auch gleich vollzogen. Man hat also beispielsweise einem Freund einen Schwur geleistet.
Aber so einfach wie in diesem Beispiel ist es in der Forschung leider nicht. Tatsächlich wird der Begriff der Performativität sehr uneinheitlich gebraucht. Je nachdem aus welcher Disziplin man ihn betrachtet, meint er unterschiedliche, manchmal sogar gegensätzliche Dinge. Und auch die Gegenstände, die man aus performativitätstheoretischer Sicht betrachtet, sind breit gefächert. Zum Beispiel zählen Theateraufführungen, gesellschaftliche und religiöse Rituale, sowie Sprachhandlungen zu diesen Gegenständen. Und wie steht das jetzt im Zusammenhang mit den Geistlichen Spielen? Das kann ich dir erklären. Die Geistlichen Spiele waren im Mittelalter einem heutigen Theaterstück sehr ähnlich und wurden erst in der Kirche und später dann auf Marktplätzen aufgeführt. Sie wurden inszeniert, um das Heilsgeschehen zu vermitteln. Dabei wurde Performativität anhand von Sprechakten, Gestik und Mimik hervorgerufen. Die Schauspieler stellten anhand ihrer Sprechakte, sowie eben mit der Gestik und der Mimik eine Handlung dar, wodurch Emotionen beim Publikum erzeugt werden konnten. Zum Beispiel konnte eine Figur anhand des Sprechaktes und der Handlung im Spiel für positive oder negative Emotionen bei den Zuschauenden sorgen. Je nachdem, wie das Gesagte oder die Handlung der Schauspieler vom Publikum wahrgenommen wurde. Aber dazu später mehr. Zudem konnten die Zuschauer durch die Schauspieler ins Bühnengeschehen miteinbezogen werden, indem sie von diesen beispielsweise direkt angesprochen wurden und damit die Grenze zwischen Publikums- und Spielrealität aufgehoben wurde.
Ein Beispiel ist hierfür, dass die Schauspieler die Zuschauer aufforderten, die Passion Christi mitzuerleben. Aber das verstehe ich jetzt noch nicht so ganz. Wir wissen doch heute gar nicht, wie diese Spiele aufgeführt und mit welcher Gestik und Mimik die Handlungen dargestellt wurden. Ja, das ist richtig. Deshalb müssen wir aber vor allem auch später beim Alsfelder Passionsspiel die im Text angelegten, performativen Strukturen betrachten. Das heißt, wir arbeiten konkret mit dem, was uns der Text zur Verfügung stellt. Zum Beispiel könnten wir darauf achten, ob der Text deiktische Ausdrücke wie zum Beispiel ‚Hier ‘ und ‚Jetzt ‘ beinhaltet. Oder auch Situationen, in denen die Rezipienten konkret mit ‚Ihr ‘ oder ‚Du ‘ angesprochen werden und somit eine konkrete Reaktion der Zuschauer hervorgerufen wird. Aber auch Stellen, bei denen der Text sich auf sich selbst bezieht, sind interessant. Da wir bei historischen Texten schlecht in die Vergangenheit reisen können, um die Aufführung live mitzuerleben und das Publikum zu befragen, konzentrieren wir uns in der Literaturwissenschaft auf die Strategien und Strukturen im Text. Denn der Text ist schließlich das, was wir haben.
Nun wollen wir aber nicht länger um den heißen Brei herumreden und endlich die Theorie auf das Alsfelder Passionsspiel anwenden, doch erst noch kurz etwas Allgemeines zum Alsfelder Passionsspiel. Wir müssen uns vorstellen, dass das Spiel auf drei Tage verteilt auf einem öffentlichen Platz innerhalb der Stadt aufgeführt wurde. Bei unseren Textpassagen befinden wir uns bereits am dritten Spieltag und somit beim Kern der eigentlichen Passionshandlung, nämlich Jesus Tod am Kreuz. In unserer Diskussion wollen wir uns zum einen mit der Marienklage, sowie zum anderen mit der Veronika beschäftigen. Dabei werden wir zuerst die genannten Textstellen in Rollen verteilt lesen und anschließend dann nach performativen Aspekten untersuchen. Nun also erstmal zur Textstelle der Marienklage.
Wir wollen uns jetzt konkret an den Text wenden und die Textstellen gemeinsam untersuchen. Wir hören jetzt erstmal einen Auszug aus dem Alsfelder Passionsspiel, in dem Johannes zu Maria kommt und berichtet, dass Jesus, ihr Sohn, gekreuzigt werden soll: „Nun höre Maria, reine Jungfrau, unser Leid ist wirklich bereitet an Jesus, dem Heil aller Welt. Er leidet in großem Umfang schmerzend für die Passion, durch der Arglistigkeit der bösen Juden. Die führen ihn jetzt hin und er ist in großen Nöten. Ich denke wirklich, dass sie ihn töten wollen.“ Maria antwortet ihm daraufhin: „Oh weh, die schreckliche Nachricht macht mein armes Herz schwer. Ich würde lieber den Tod erleiden wollen, als dass ich mein Kind mit Not vor mir verwundet sehen soll. Oh weh, sollen sie doch heute in mir alle Frauen ehren, und mich töten und ihn leben lassen. Wer kann mir nur Trost geben? Ich will laufen und will sehen, wie es meinem Kind ergehen soll.“ Maria macht sich daraufhin auf den Weg zu Jesus und sieht, wie er das Kreuz, an dem er selbst gekreuzigt werden soll, trägt.
Dann sagt sie: „Nun hebt sich aber mein Leid, denn ich sehe solch eine Plage. Derjenige, der das Heil der Welt sein wird, muss heute ganz ohne Schuld das Kreuz zur Mater tragen. Das wollte ich dir tragen helfen, denn du hast mein bedrücktes Herz. Oh weh, welch ein großes Leid, dass du von mir scheiden musst. Ach, wenn ich heute für dich sterben könnte, denn wäre mein Herz froh. In Reinheit habe ich dich empfangen, und du hast dein Leben begangen ohne sündhafte Tat. Und in deinen Tagen hast du so viel Gutes getan. Oh weh, ihr Juden, wollt ihr nun mein liebes Kind gehen lassen und mich töten? Darum bitte ich euch inniglich.“ Der ebenfalls anwesende Hohe Priester beschwert sich daraufhin über Marias Klage und sagt: „Geh weg von uns, du böse Frau. Diesen Betrüger trug dein böser Körper, der uns in diese Not gebracht hat. Darum muss er heute den Tod erleiden an diesem Tag. Auch wenn dein Klagen noch so groß ist, so magst du uns nicht erweichen. Geh von uns, wir wollen dir sonst Schläge geben.“ So viel zu der Textstelle, die wir nun genauer betrachten wollen.
Was besonders auffällt, ist, dass Maria immer und immer wieder darauf hinweist, dass das, was passiert, also der Weg Jesu zum Kreuz, genau jetzt passiert. Jetzt, heute, an diesem Tage. Das spricht sie laut und deutlich aus. Und so spielt sie es auch vor den anwesenden Zuschauern, die das Passionsspiel betrachten. Mit diesen kleinen Wörtern, die auf das Hier und Jetzt verweisen, hat Maria eine große Wirkung auf die Zuschauer. Sie setzt die Spiel- und Zuschauergegenwart gleich. Was bedeutet das? Den Zuschauern wird vorgespielt, dass der Weg zur Kreuzigung genau jetzt stattfindet. Wir hören nochmal diesen einen Satz von Maria, der eben genau das ganz gut deutlich macht. „Nun hebt sich aber mein Leid, denn ich sehe solch eine Plage. Derjenige, der das Heil der Welt sein wird, muss heute ganz ohne Schuld das Kreuz zur Marter tragen.“ Heute, an diesem Tage, trägt Jesus das Kreuz. Jetzt, in der Realität der Zuschauer, zum Zeitpunkt des Zuschauens. Denn es geht nicht nur darum, mit dem Alsfelder Passionsspiel an etwas zu erinnern, was bereits vergangen ist, was schon vor Jahren passiert ist. Es geht darum, den Zuschauern das Gefühl zu vermitteln, es passiert genau jetzt und hier, im Moment des Zuschauens. Die Zuschauer dürfen, sie müssen sogar teilhaben an dem, was gerade passiert. Und das macht Maria durch diese kleinen Wörter, wie ‚Hier ‘ und ‚Jetzt ‘ und ‚An diesem Tage‘, immer wieder deutlich.
Aber Maria hat natürlich noch viel mehr zu bieten. Wir wollen uns anschauen, welche Rolle Maria denn in dieser Szene eigentlich einnimmt. Wir haben gehört, Johannes kommt zu ihr und berichtet ihr von Jesus Schicksal. Daraufhin macht sie sich auf den Weg und sieht Jesus das Kreuz tragen. Sie schaut also dabei zu, wie ihrem Sohn das Kreuz aufgelegt wird und wie er dieses trägt. Aber wem geht es denn in dieser Situation genauso? Wer schaut auch dabei zu, wie Jesus das Kreuz aufgelegt wird, welches Schicksal Jesus erleidet? Natürlich: die Zuschauer vor Ort. Auch die schauen Jesus dabei zu, wie er das Kreuz trägt. Maria ist also selbst Zuschauerin des Geschehens, genauso wie die Leute vor Ort. Sie kann als Mitzuschauerin gesehen werden, weil ja auch sie selbst nicht in das Geschehen eingreifen kann. Auch sie kann einfach nur zuschauen.
So weit, so gut. Maria und die Zuschauer betrachten also das Geschehen. Und was macht Maria dann? Sie reagiert auf die Situation. Sie reagiert mit lautem Klagen, mit dem Ausruf, sie würde Jesus gerne helfen, das Kreuz zu tragen und es ihm abzunehmen. Wir wollen nochmal genau hinhören, was Maria da eigentlich sagt. „Oh weh, die schreckliche Nachricht macht mein armes Herz schwer. Ich würde lieber den Tod erleiden wollen, als dass ich mein Kind mit Not vor mir verwundet sehen soll.“ Und später sagt sie dann weiter: „Das Kreuz wollte ich dir tragen helfen, denn du hast mein bedrücktes Herz. Oh weh, welch ein großes Leid, dass du von mir scheiden musst. Ach, wenn ich heute für dich sterben könnte, dann wäre mein Herz froh.“ Sie möchte Jesus das Kreuz abnehmen. Sie würde lieber selbst sterben, als Jesus sterben zu sehen. Mit dieser Reaktion zeigt sie den Zuschauern, wie es als gläubige Christin richtig ist, auf diese Situation zu reagieren, nämlich mit Klagen, mit dem Wunsch, Jesus das Leid abzunehmen, das ihn erwartet. So reagiert sie und so sollte jeder gläubige Christ wohl in dieser Situation reagieren. Und da Maria als Mitzuschauerin eine unter den vielen Zuschauern vor Ort ist, bewirkt sie mit ihrer vorbildhaften Funktion, dass die Zuschauer sich ihr anschließen und eben genau die gleiche Reaktion bei sich selbst hervorrufen. Auch die Zuschauer sollen Jesus das Leid abnehmen wollen. Auch sie sollen leiden und Marias Worte nachvollziehen. Am besten noch selbst fühlen. Die Zuschauer und ihre Reaktionen werden also aktiv in das Geschehen mit einbezogen. Sie sollen teilhaben an dem, was sich auf der Bühne im Hier und Jetzt abspielt und sie sollen mitwirken durch ihre Reaktion, durch ihr eigenes Leiden. Genau das ist das Performative in dieser Szene. Die Repräsentation des Geschehens, das sich im Hier und Jetzt abspielt und der Mitvollzug durch die Zuschauer vor Ort. All das wird durch Marias Rolle und ihren Äußerungen bewirkt.
Wir schauen uns jetzt noch eine weitere Textstelle aus dem Alsfelder Passionsspiel an. In dieser Szene erzählt Veronika davon, dass sie Jesus auf dem Weg zu seiner Kreuzigung begegnet. Wie ihr wisst, muss das Kreuztragen furchtbar anstrengend gewesen sein und Jesus war wohl schon sehr erschöpft. Veronika versucht ihm zu helfen und wischt ihm deswegen dann die Schweißperlen mit einem Tuch ab. Was sie über Jesus anschließend zu sagen hat, erzählt ein Auszug des Passionsspiels. Beginnen wir doch einmal zu lesen. „Ach ihr lieben guten Menschen, Jesus, das unschuldige Blut, hat große Liebe bewiesen, an mir sehr armen Frau. Ich bat den heiligen Heiland, dem mein Begehren bekannt war, in seinen großen Nöten, als ihn die hinterlistigen Juden töten wollten, als hier die schwere Last auf seinen Rücken drückte, zum Schutz gegen das Unglück der ganzen Welt, das Kreuz groß und lang, aus Bedrängnis fiel er oft zu Boden.“ Was wir hier bemerken können, ist, dass Veronika die Einzige ist, die spricht. Dennoch gibt es auch eine starke Einbeziehung der anderen Schauspieler. Denn bevor Veronika beginnt zum Publikum zu sprechen, hebt sie ihre Hand und deutet damit auf die ganzen anderen Schauspieler, damit klar wird, dass sich ihre Worte auch an sie richten. Sie wendet sich den Schauspielern zu und so bekommen die Zuschauer das Gefühl, einer echten Unterhaltung zuzuschauen. Wie ihr vielleicht gleich am Anfang der Textstelle mitbekommen habt, spricht Veronika sowohl zu den anderen auf der Bühne anwesenden Schauspielern als auch direkt zu den Zuschauern.
Aber wo dann merkt man das? Lesen wir doch den Anfang gleich noch einmal. „Ach, ihr lieben guten Menschen!“ Die Zuschauer werden so ins Geschehen miteinbezogen und fühlen sich als Teil des Schauspiels. Aber nun lesen wir doch noch ein Stückchen weiter. „Da ging ich ihm nach und rief ihn an, ob er mir hier nicht ein Andenken überlassen wollte, mithilfe dessen ich an ihn gedenken könnte, bis an das Ende meines Lebens. Ich behaupte das wirklich gemäß der Wahrheit, dass ich sehr betrübt war wegen ihm. Damit tat er mir seine Liebe kund, der heilige barmherzige Heiland. Er bat mich um meinen Schleier, den nahm er in seine Hände und drückte ihn wirklich an sein Haupt. Darauf wurde sein Antlitz sichtbar, genauso wie er zu der Zeit aussah. Nun seht alle, Jung und Alt, ihr Reichen und ihr Armen. Seht und lasst euch erbarmen. Heut an dem Tag der schmerzvollen Nacht, die Jesus für uns gelitten hat.“ Hier erzählt Veronika von ihrer Begegnung mit Jesus. Sie hilft ihm, indem sie ihm ein Tuch anbietet, mit dem man sich den Schweiß von der Stirn wischen kann. Veronika stellt aber übrigens auch noch Forderungen an das Publikum. Habt ihr schon herausgefunden, was sie bei den Zuschauern bewirken möchte? Sie spricht zum Publikum und sagt, dass jeder einzelne Schauspielbesucher ein gutes Leben führen soll, um nach seinem Tod in den Himmel kommen zu dürfen. Sie verspricht, dass man dann dort das wahre Angesicht von Gott sehen könne und sich in der Nähe des Himmelsthrones aufhalten darf. Die Moral vom Publikum soll so gestärkt werden. Damit werden die Zuschauer zum Nachdenken angeregt, ob sie denn vielleicht in letzter Zeit einen Fehler gemacht haben, den sie wieder versuchen sollten, gut zu machen. Da die Zeit damals sehr christlich geprägt war, haben sicher viele der Zuschauer versucht, sich an die Inhalte der Bibel zu halten und ein guter Mensch zu sein. So viel zum Alsfelder Passionsspiel.
Und was können wir jetzt bitte aus all dem mitnehmen? Obwohl wir bei der Originalaufführung nicht vor Ort waren, bekommen wir beim Lesen des Textes durch die performativen Marker einen Eindruck davon, wie sich die Zuschauer damals gefühlt haben müssen. Wie sie durch die Schauspiele und deren Handlungen konkret angesprochen und ins Geschehen einbezogen wurden. Wir hoffen, dass wir euch den komplizierten Begriff der Performativität in den letzten Minuten etwas näherbringen konnten. Wir danken euch fürs Zuhören und hoffen, ihr freut euch schon auf die nächste Podcast-Folge. Bis dahin, tschüss!
Bühne aufs Ohr. Eine Reise durch die geistlichen Spiele des Mittelalters